Leseprobe: Ein kleiner Vorgeschmack
Hier bekommst du einen exklusiven Einblick in mein Buch. Lass dich von der Geschichte mitreißen…
Prolog - Der Weg ins Dunkel
Es war spät am Abend, und die Stadt lag unter einer schweren Decke aus grauem Regen. Die Straßen schimmerten in trüben, flüssigen Spiegeln, die die kargen Lichter der Laternen zitternd reflektierten. Der Himmel über der Stadt war dunkel und bedrohlich, von Wolken überzogen, die jede noch so kleine Hoffnung auf einen Sternenschimmer erstickten. Der Regen fiel in schweren, endlosen Strömen und hüllte die Stadt in ein monotones Rauschen, das jede andere Geräuschkulisse verschluckte.
Jonas Markovic stand am Fenster seiner Wohnung. Die flackernden Lichter der Leuchtreklamen und die Schatten der vorbeigehenden Menschen verschwammen vor seinen Augen. Sein Gesicht war eine Maske der Leere – die Mundwinkel leicht nach unten gezogen, die Stirn in tiefen Falten. Seine Augen, einst lebendig und voller Energie, waren jetzt stumpf und trüb wie das Wetter draußen. In seiner Brust lastete eine Schwere, ein Gewicht, das ihn seit Jahren begleitete und das er weder durch Alkohol noch durch Wutausbrüche vertreiben konnte.
Sein Leben war eine Kette aus zerbrochenen Versprechen, zerstörten Beziehungen und bitteren Enttäuschungen. Er hatte so oft versucht, jemand zu sein, der den Erwartungen anderer entsprach, und war dabei jedes Mal gescheitert. Nun war er ein Mann, gefangen in einem Käfig aus Selbstverachtung und Zorn. Kein Trost, keine Hoffnung schien mehr erreichbar.
Die vertraute Stimme in seinem Kopf meldete sich wieder – leise, aber beharrlich. „Warum versuchst du es überhaupt noch, Jonas?“, flüsterte sie. Es war nicht seine eigene Stimme, sondern die eines heimtückischen Begleiters, der ihn seit Jahren nicht mehr losließ. „Du wirst niemals etwas anderes sein als das, was du jetzt bist: ein Versager.“
Jonas schloss die Augen, als ob er die Worte so vertreiben könnte, doch die Stimme blieb. Sie war immer da – ein stiller Zeuge seiner Selbstzerstörung, der ihn in den dunkelsten Stunden höhnisch verspottete.
Er dachte an Sarah, seine Ex-Frau. Ihre Tränen, die nie versiegten, auch wenn er sie jedes Mal verspottete, wenn sie weinte. An Jakob, seinen besten Freund, der ihn trotz allem nie verlassen hatte – bis er ihn schließlich zu weit trieb. Und an seine Mutter, die ihm schon vor Jahren den Rücken gekehrt hatte, weil sie das nicht mehr ertragen konnte, was aus ihm geworden war. Ein bitteres Lächeln umspielte seine Lippen. Gut so, dachte er. Wenigstens ist niemand mehr da, den ich enttäuschen kann.
Doch die Einsicht brachte keinen Frieden, sondern verstärkte die quälende Leere in ihm. Warum konnte er nicht aufhören, alles zu zerstören, was ihm je etwas bedeutet hatte? Warum schien der Hass, der in ihm brannte, niemals gestillt? Seine Hände ballten sich zu Fäusten, und er spürte, wie sich sein ganzer Körper anspannte, als ob jede Muskelfaser gegen sich selbst rebellierte.
„Verdammt nochmal,“ knurrte er leise und wandte sich abrupt vom Fenster ab. Der Drang, aus der Wohnung zu fliehen, wurde überwältigend – weg von diesen vier Wänden, die ihn erdrückten, weg von den Gedanken, die ihn wie ein giftiger Nebel umhüllten. Weg von sich selbst.
Ohne nachzudenken, griff Jonas nach seiner Lederjacke, die über dem Stuhl hing, und zog sie sich über. Der Gedanke, einfach zu verschwinden, wuchs in ihm zu einem drängenden Bedürfnis. Die Stimme in seinem Kopf war jedoch unerbittlich: „Was erhoffst du dir, Jonas? Dass der Schmerz einfach verschwindet? Dass du ein anderer wirst? Nein. Du bist und bleibst, wer du bist: schwach, erbärmlich und allein.“
Die Wohnungstür schlug laut hinter ihm zu, als er die Treppen hinunterstürmte und die Straße betrat. Der kalte Regen peitschte ihm ins Gesicht, durchnässte sofort sein Haar und rann eiskalt seinen Nacken hinunter. Doch Jonas spürte die Kälte kaum. Er fühlte nichts – nichts außer der Leere, die ihn innerlich auffraß.
Er erreichte seinen alten Cadillac, dessen schwarzer Lack wie vergessener Glanz in der Dämmerung lag.
Mit einem Ruck öffnete er die Tür und ließ sich schwer auf den Fahrersitz fallen. Der vertraute, muffige Geruch nach altem Leder und Zigarettenrauch umfing ihn. Für einen kurzen Moment war er wieder in einer Zeit, in der er geglaubt hatte, alles unter Kontrolle zu haben. Doch diese Illusion zerbrach sofort.
Ohne zu zögern, zog er die Autoschlüssel aus der Tasche und startete den Motor. Das Dröhnen des Motors durchbrach die Stille der Nacht wie ein unheilvolles Grollen. Jonas trat das Gaspedal durch, und der Cadillac schoss in die Dunkelheit davon. Die Reifen spritzten das Wasser von der nassen Straße in hohen Bögen auf, während die Lichter der Laternen in einem raschen Flimmern an den Fenstern vorbeizogen.
Die Stimme in seinem Kopf wurde lauter, spöttischer: „Was glaubst du, wohin du fahren kannst? Du kannst dir selbst nicht entkommen.“
Ziellos raste er durch die Straßen. Jeder Meter, den er zurücklegte, schien ihn jedoch tiefer in eine düstere Spirale zu ziehen. Erinnerungen blitzten vor seinem inneren Auge auf: Sarahs weinendes Gesicht, Jakobs enttäuschter Blick, die Verachtung seiner Mutter. Er dachte an die Male, als er hätte um Verzeihung bitten können – doch stattdessen war er jedes Mal geflohen.
Sein Griff um das Lenkrad wurde fester. Wohin fuhr er? Was erwartete ihn am Ende dieser Straße? Nichts. Nur die gleiche Leere, die er schon sein ganzes Leben mit sich trug.
Er schloss für den Bruchteil einer Sekunde die Augen.
Dann—ein grelles Licht!
Reflexartig riss er das Lenkrad herum, doch die Straße war rutschig. Die Reifen quietschten, der Wagen schleuderte, und für einen Sekundenbruchteil sah Jonas den massiven Lastwagen auf sich zurasen.
Dann—Aufprall. Metall kreischte auf Metall. Der Schock riss ihm den Atem aus der Brust. Die Welt überschlug sich. Geräusche zerfetzten die Stille. Und dann… nichts.
Jonas öffnete die Augen – oder glaubte es zumindest. Doch er sah nichts. Nur Dunkelheit. Eine endlose Leere, in der kein Laut, kein Echo existierte. War das der Tod?
Dann… ein Flackern. Ein sanftes, pulsierendes Licht, kaum mehr als ein Hauch. Es war nicht grell, nicht blendend, sondern warm, ein stilles Versprechen in der endlosen Schwärze.
Ein Gefühl, das er nicht kannte, breitete sich in ihm aus – nicht Angst, nicht Verzweiflung, sondern eine merkwürdige, fremdartige Ruhe.
„Willkommen, Jonas.“
Die Stimme kam nicht aus einer Richtung, sie war einfach da – ein Flüstern, das von überall und nirgends zu kommen schien. Sie war ruhig, sanft, aber dennoch durchdringend, als würde sie in das tiefste Innere seines Wesens dringen.
Jonas drehte sich – oder versuchte es, doch er hatte keinen Körper, keinen festen Bezugspunkt. Die Dunkelheit begann zu weichen, und aus dem Licht formte sich eine Gestalt. Majestätisch, leuchtend, mit ausgebreiteten Flügeln, die sich wie flüssiges Gold bewegten.
„Wer… bist du?“ Seine Gedanken rasten, doch die Worte klangen hohl.
„Ich heiße Auriel.“
Jonas’ Gedanken rasten, sein Bewusstsein kämpfte gegen die Erkenntnis, die in ihm aufkeimte. „Bin ich tot?“
„Ja und nein,“ antwortete Auriel, seine Stimme hallte sanft wider und umhüllte Jonas wie ein schützender Mantel. „Du bist an der Schwelle. Dein Leben, so wie du es gekannt hast, ist zu Ende. Doch deine Reise ist noch nicht vorbei.“
Ein Teil von Jonas wollte das akzeptieren, wollte sich in die beruhigende Ruhe dieses Augenblicks fallen lassen. Doch ein anderer Teil, der wütende, verzweifelte Teil, sträubte sich. „Das… das ist nicht möglich. Ich bin nicht tot! Ich kann nicht… ich…“
„Jonas.“ Die Stimme von Auriel klang sanft, aber unnachgiebig. „Du musst die Wahrheit akzeptieren. Du bist gestorben. Der Unfall hat deinem physischen Körper ein Ende gesetzt.“
Die Worte von Auriel durchbohrten Jonas wie kalte Nadeln. Ein gewaltiger Schmerz, tiefer als alles, was er jemals gespürt hatte, breitete sich in ihm aus. Das kann nicht sein… das darf nicht sein. Doch tief in seinem Inneren wusste er, dass es die Wahrheit war. Es gab keinen Weg zurück.
„Nein… nein!“ glaubte er zu schreien. Er spürte keinen Körper, keine Vibration seiner Stimme. Es war, als ob seine Gedanken sich in die Dunkelheit ergossen, in ein Vakuum, das jede Emotion verschlang. „Das ist nicht fair! Ich hatte… ich wollte…“
„Du wolltest was?“ fragte Auriel, seine Augen ruhten sanft auf Jonas. „Was wolltest du wirklich, Jonas?“
„Ich wollte…“ Die Wahrheit schlingerte vor Jonas’ Bewusstsein wie ein schwer fassbarer Schatten. Was wollte er wirklich? Er sah verschwommene Bilder von Sarah, von Jakob, von all den Menschen, die er verletzt und zurückgelassen hatte. Doch die Bilder waren trübe, verzerrt. Er hatte sie nie wirklich verstanden, nie die Liebe begriffen, die sie ihm einst geben wollten.
„Ich weiß es nicht,“ flüsterte Jonas schließlich. „Ich weiß es einfach nicht.“
„Und genau deshalb bist du hier,“ sagte der Engel. „Damit du es herausfinden kannst. Damit du verstehst, was du in deinem Leben verpasst hast.“
„Das ist doch alles Unsinn!“ Jonas schüttelte geistig den Kopf. „Ich habe nichts verpasst. Nichts, was es wert wäre, darüber nachzudenken. Ich kann nicht… ich will nicht…“ Er wollte sich gegen die Worte des Engels wehren, gegen die leise, unerbittliche Wahrheit, die in sie eingewoben war. Doch das Licht schien ihn immer weiter zu umhüllen, drang tiefer in sein Bewusstsein ein, bis er glaubte, keinen Ausweg mehr zu haben.
„Du willst nicht?“ Die Stimme des Engels klang ruhig, aber entschlossen. „Oder hast du Angst davor, was du sehen könntest? Angst, dir einzugestehen, dass du vielleicht Fehler gemacht hast?“
„Fehler? Wovon redest du?“ Jonas’ Gedanken wirbelten durcheinander. „Ich habe getan, was ich tun musste. Ich… habe mein Bestes gegeben.“ Doch selbst als er die Worte dachte, fühlten sie sich hohl an, bedeutungslos. Ein Teil von ihm wusste, dass das, was er sagte, nicht die ganze Wahrheit war. Dass er mehr verdrängt als wirklich gelebt hatte.
„Du hast vieles getan, Jonas. Aber war es das, was du wirklich wolltest?“ Die Frage des Engels hallte durch Jonas’ Geist, und mit ihr kam eine Welle von Bildern – Sarah, mit Tränen in den Augen, Jakob, der enttäuscht wegsah, und all die anderen Gesichter, die sich ihm langsam, aber unaufhaltsam ins Gedächtnis brannten.
„Nein, hör auf!“ schrie Jonas innerlich und versuchte, die Bilder zu verdrängen. „Ich will das nicht sehen! Was bringt es mir, das alles nochmal zu durchleben?“
„Es geht nicht darum, es zu durchleben. Es geht darum, es zu verstehen. Und zu erkennen, was du wirklich wolltest… und was du verloren hast.“
„Verloren?“ Der Gedanke traf ihn wie ein Schlag. War es das, was all diese Gesichter ihm sagen wollten? Dass er etwas verloren hatte, ohne es jemals zu besitzen?
Eine dunkle Präsenz formte sich in seinem Geist, wie ein kalter Schatten, der seine Gedanken durchdrang. Die Luft um Jonas wurde schwer, als würde sie sich verdichten, und eine Kälte kroch durch seine Adern, die tiefer ging als bloße Temperatur. Eine vertraute Stimme flüsterte ihm zu, süß und giftig zugleich: „Warum solltest du dich ändern, Jonas? Du hast alles richtig gemacht. Es gibt keinen Grund, auf diesen Engel zu hören.“
Jonas erstarrte. Diese Stimme... sie war wie ein Echo aus den tiefsten Winkeln seines Bewusstseins, hatte ihn schon immer begleitet, auch wenn er es nicht gewusst hatte. Die Dunkelheit verdichtete sich, nahm Form an - ein lebendiger Schatten, der seine eigenen Züge trug, verzerrt zu einer Maske all seiner verdrängten Ängste.
„Bleib bei mir, Jonas,“ sprach der Schatten, seine Stimme ein verlockendes Flüstern. „Hier gibt es keine Schuld, keinen Schmerz. Nur die friedliche Taubheit, die du so gut kennst. Das Vertraute, das Bekannte... hier musst du nichts fühlen.“
Die Worte drangen tief in Jonas‘ Bewusstsein, und mit ihnen kam die altbekannte Betäubung. Er kannte diesen Zustand nur zu gut - wie oft hatte er sich schon in die Leere geflüchtet, wenn das Leben zu schwer wurde? Der Schatten bewegte sich um ihn wie dichter Nebel, zeigte ihm Bilder aus seinem Leben: Er sah sich selbst, wie er Menschen zurückwies, bevor sie ihn zurückweisen konnten. Wie er sich in Arbeit vergrub, um nichts zu fühlen. Wie er in einsamen Nächten zu betäubenden Mitteln griff, nur um der inneren Leere zu entkommen.
„Siehst du das Muster?“ Der Schatten glitt näher, seine Präsenz wie eine eisige Umarmung. „Mit jedem Rückzug wird die Welt ein bisschen grauer. Mit jeder Betäubung werden die Mauern um dein Herz etwas höher. Eine perfekte Spirale - dein eigenes, selbsterschaffenes Gefängnis.“
Die Bilder verschmolzen zu einem Strudel aus Erinnerungen, jede dunkler als die vorherige. Jonas sah, wie jede Zurückweisung zu mehr Einsamkeit führte, wie die Einsamkeit nach mehr Betäubung schrie, wie die Betäubung ihn noch weiter von allem trennte, was lebendig war. Ein Teufelskreis, der sich selbst nährte.
„Du erschaffst deine eigene Hölle,“ sprach Auriel sanft in die Dunkelheit. „Mit jedem Widerstand gegen das, was ist, mit jeder Flucht vor deinen Gefühlen, gräbst du dich tiefer in die Dunkelheit.“
Jonas' anfängliche Verwirrung wich einem tiefen Schmerz, der sich durch seine ganze Existenz fraß. „Und was, wenn ich nicht will?“ flüsterte er, seine Stimme brüchig vor unterdrückten Gefühlen. „Was passiert, wenn ich mich weigere, diesen Schmerz zu akzeptieren?“
„Dann wirst du für immer in dieser Dunkelheit gefangen bleiben,“ antwortete Auriel ruhig. „Der Schmerz ist wie ein Fluss, Jonas. Er will durch dich hindurchfließen. Wenn du aufhörst, gegen ihn anzukämpfen, wenn du ihm vertraust, wird er dich reinigen statt dich zu ertränken.“
„Das ist Wahnsinn!“ zischte der Schatten. „Ich beschütze ihn! Hier ist es sicher, hier kennt er sich aus. Das Licht wird ihn nur verletzen, ihm Dinge zeigen, die er nicht sehen will. Ich bin das Einzige, was ihm noch bleibt.“
„Alles ist vergänglich,“ fuhr Auriel fort, seine Stimme warm wie Sonnenlicht. „Der Schmerz, die Freude, die Dunkelheit, das Licht - nichts bleibt für immer. In jedem Sturm liegt ein verborgenes Geschenk, eine Stärke, die du ohne ihn nie entdeckt hättest. Du trägst diese Kraft bereits in dir, auch wenn du sie vergessen hast.“
Jonas zögerte, gefangen zwischen der verlockenden Vertrautheit des Schattens und dem ungewissen Licht, das Auriel ihm zeigte. Die Dunkelheit war sein Zuhause gewesen, so lange er denken konnte. Die Leere war vorhersehbar, sicher in ihrer Taubheit. Sie hatte ihn nie überrascht, nie enttäuscht. Sie war immer da gewesen – verlässlich, vertraut, ein Schutz vor der Welt.
Und doch…
„Eines Tages,“ sprach Auriel sanft, „wirst du vielleicht sogar dankbar sein für diese Reise. Dankbar für jeden Schritt, der dich zu dir selbst führt. Du hast nichts zu verlieren, Jonas – nur die Ketten, die du dir selbst angelegt hast.“
Jonas schluckte. Die Worte schnitten tiefer, als er erwartet hatte.
„Ich…“ Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Der Schmerz in ihm schwoll an, brennend und reinigend zugleich. Doch unter diesem Schmerz lag etwas anderes – ein leiser, fast vergessener Funke. Eine Stärke, die nie ganz erloschen war. Eine Sehnsucht nach Leben, die tiefer reichte als die Mauern, die er um sich errichtet hatte.
Er sah den Schatten an. Früher hätte er sich in seiner Dunkelheit vergraben, hätte sich eingeredet, dass es sicherer sei, nichts zu fühlen. Doch jetzt erkannte er, was er wirklich war – nicht Schutz, sondern Gefängnis.
Auriels Licht drang tiefer in ihn ein, nicht fordernd, nicht zwingend, sondern einladend.
„Was habe ich zu verlieren?“ murmelte Jonas, fast zu sich selbst, während er spürte, wie sich etwas in ihm zu öffnen begann.
„Genau,“ stimmte Auriel zu, sein Licht nun wärmer, näher. „Nichts zu verlieren… und vielleicht alles zu gewinnen.“
Jonas atmete tief ein. Widerstrebend, zögerlich hob er die Hand. Ein Funke Hoffnung flackerte in ihm auf.
Doch in diesem Moment riss der Schatten an ihm, wütend, verzweifelt.
„Du wirst es bereuen!“ brüllte er, seine Stimme vibrierte vor Panik. „Ohne mich bist du nichts, Jonas! Du brauchst mich!“
Jonas’ Hand zitterte. Die Dunkelheit versuchte ihn zurückzuziehen – mit Erinnerungen, mit Schuld, mit all den Dingen, die ihn einst gefangen hielten.
Doch dann erkannte er die Wahrheit.
„Nein,“ flüsterte er. „Ich brauche dich nicht mehr.“
In dieser Entscheidung lag mehr Kraft, als er je gespürt hatte. Doch dann – Zweifel.
Das Licht war da. Warm. Einladend. Aber er spürte auch die Kälte, die ihn so lange geschützt hatte. Was, wenn es nur eine Illusion war? Was, wenn es ihn enttäuschte, so wie alles andere?
Der Schatten lachte leise. „Lass es. Die Dunkelheit ist sicher. Du kennst mich.“
Jonas schloss die Augen. Erinnerungen flackerten auf. Sarahs Augen, voller Schmerz und Hoffnung zugleich. Jakob, der ihm zum letzten Mal die Hand hinstreckte.
Der Funke, den er verdrängt hatte.
Eine einzelne Träne löste sich, schwebte wie ein Kristall im Nichts. In ihr spiegelte sich das Licht Auriels, brach sich in tausend Farben.
„Ich wähle das Licht“, sagte Jonas. Seine Stimme zitterte nicht mehr. „Nicht weil es leichter ist. Sondern weil ich endlich leben will. Wirklich leben.“
Vielleicht… vielleicht hatte er nichts zu verlieren.
Er öffnete die Augen streckte seine Hand aus, durch den kreischenden Schatten hindurch, der sich wie schwarzer Rauch um ihn wand. Seine Finger berührten das Licht von Auriels Hand.
Es war warm.
Es war wie nach Hause kommen.
Kapitel 1 - Der Spiegel der Wahrheit
In dem Moment, als sich ihre Finger berührten, schien die Dunkelheit um Jonas herum zu erzittern, als ob sie spüren würde, dass ihre Herrschaft zu Ende ging. Doch sie verschwand nicht vollständig – sie zog sich zurück, lauernd wie eine Bestie, die im Schatten verharrt, bis die Zeit für ihre Rückkehr gekommen ist.
Das Licht breitete sich aus, wärmend und doch durchdringend, als ob es nicht nur seine Haut, sondern auch die tiefsten Winkel seines Seins berührte. Eine Welle der Ruhe durchströmte ihn, doch darunter lag etwas anderes – ein Echo seiner Zweifel, ein letzter Funken Widerstand.
Für einen Moment fühlte sich Jonas schwerelos. Der Boden unter seinen Füßen verschwand, und eine sanfte, pulsierende Helligkeit umgab ihn. Es war, als würde er durch einen endlosen Raum aus Licht treiben, ohne Anfang und ohne Ende. Ein leiser Schwindel überkam ihn, und ein Anflug von Angst regte sich in seinem Inneren.
„Wo… bin ich?“ Seine eigene Stimme klang fremd in dieser Weite, fast verschluckt von der Stille. Das Licht verdichtete sich, formte sich zu fließenden Konturen, die sich stetig wandelten. Sein Herz pochte hart in seiner Brust, als ob es sich gegen das Hiersein wehren wollte. Die Luft – falls es hier überhaupt Luft gab – war eigentümlich. Kein Windhauch, keine Temperatur, nur ein kühler Druck in seinen Lungen, als hätte er vergessen, wie man atmet.
Auriels Stimme klang sanft in seinen Gedanken: „Du bist an der Schwelle zwischen dem, was war, und dem, was sein kann. Lass los, Jonas. Lass dich führen.“
Jonas’ Finger krallten sich in die Luft, als würden sie Halt suchen, doch da war nichts – nur diese unheimliche Leichtigkeit, die ihn umschloss. Alles in ihm rebellierte gegen dieses Gefühl. Die Welt war nie leicht gewesen. Warum sollte sie es jetzt sein? Was, wenn dieses Licht ihn verschluckte? Was, wenn es ihn auslöschte?
Seine Brust zog sich zusammen, während die letzten Schatten seiner Angst sich noch einmal aufbäumten.
Ein Schauer rann über seinen Rücken. Seine Muskeln verkrampften sich, als hätte sein Körper beschlossen, sich selbst in diesem Moment festzuhalten. Sein Atem wurde flach, als würde eine unsichtbare Hand seine Kehle zusammendrücken.
Er spürte, wie sein Herz gegen seine Rippen schlug, ein verzweifeltes Pochen, als wolle es sich einen Ausweg aus diesem Licht erzwingen. Seine Finger zuckten unkontrolliert, sein ganzer Körper schien sich gegen das Unvermeidliche zu stemmen.
Die Angst kroch in seine Glieder – kalt, zäh, erbarmungslos.
Seine Hände bebten, und für einen Moment war er sich nicht sicher, ob er noch stehen oder bereits fallen würde.
Doch dann – ein tiefer Atemzug, ein inneres Nachgeben. Er ließ los.
Und in diesem Moment breitete sich das Licht vollständig aus und verschlang die Dunkelheit.
Jonas öffnete die Augen – oder glaubte es zumindest. Die Welt, die ihn umgab, war nicht die, aus der er gekommen war. Keine Straßen, kein Regen, keine Mauern, die ihn einengten. Stattdessen flutete ihn eine grenzenlose Weite aus schimmerndem Licht, das sich in sanften Pulsen bewegte, als würde es atmen. War das hier Realität? Die Luft – falls es hier überhaupt Luft gab – hatte keine Temperatur, keine Schwere, nichts Greifbares. Und doch schien sie etwas in ihm zu berühren, als ob sie bis in sein Innerstes vordrang und ihn durchdrang.
Er schwebte. Oder stand er auf festem Boden? Jonas konnte es nicht sagen. Unter ihm erstreckte sich eine spiegelglatte Fläche, die an Kristall erinnerte und doch so weich war wie Wolken. Sie reflektierte nicht nur das Licht um ihn herum, sondern auch ihn selbst – nicht nur sein Äußeres, sondern etwas Tieferes, etwas, das er nicht ganz begreifen konnte.
Zum ersten Mal in seinem Leben lastete nichts auf ihm. Kein Gewicht, kein Schmerz, keine Schwere, die ihn niederdrückte. Doch anstatt Erleichterung zu verspüren, kroch ein leises Unbehagen in seine Brust – eine Unruhe, die sich ausbreitete wie eine leere Stille, die zu groß war, um sie zu fassen.
„Das ist… falsch“, murmelte er und fuhr sich unbewusst über die Arme, als ob er sich vergewissern wollte, dass er noch existierte. In ihm wuchs eine Unruhe – eine Angst vor dem Unbekannten, ein Widerstand gegen diese fremde, sanfte Leichtigkeit. Er hatte so lange in Dunkelheit gelebt, dass das Licht ihn blendete. So lange Schmerz gespürt, dass das Fehlen davon ihn beunruhigte.
Für einen Moment war er wieder dort – in seinem alten, dunklen Zimmer. Der schwache Schein einer Straßenlaterne fiel durch das Fenster. Die Luft war kalt, schwer von Zigarettenrauch und Einsamkeit. Das Flimmern eines Bildschirms war das einzige Licht in der Finsternis. Niemand rief ihn an. Niemand wartete auf ihn. Niemand.
Und jetzt – Licht, Wärme, Weite. Es fühlte sich fast… falsch an.
Er drehte sich langsam um, suchte nach einem Ankerpunkt in dieser surrealen Weite. Über ihm erstreckte sich ein Himmel, der keiner war – schimmernd, fließend, durchzogen von goldenen Linien, die sich bewegten wie Sternschnuppen. In der Ferne ragten kristallene Strukturen empor, Paläste aus Licht, deren Umrisse nie ganz stillzustehen schienen, als ob sie mit jedem Herzschlag neu erschaffen wurden.
„Wo… bin ich?“ Seine eigene Stimme wirkte fremd, verschluckt von der endlosen Stille. Keine Wände. Keine Schatten. Nur Leere – ein Raum ohne Anfang und Ende.
Auriels Stimme erklang in seinem Geist, warm und ruhig: „Du bist dort, wo du bereit bist zu sein.“
Sein Blick flog rastlos durch die Weite, suchte nach einem Fixpunkt. Sein Herz raste, als würde es gegen unsichtbare Mauern schlagen. Bereit? Er fühlte sich, als würde er fallen. „Das… das macht keinen Sinn.“ Seine Stimme klang heiser, fast fremd. Er presste die Fingerspitzen gegen die Schläfen, als könnte er die Wahrheit herausdrücken. „Ich… ich verstehe das nicht.“
Er erwartete Widerstand. Einen Kampf. Er hatte immer kämpfen müssen. Doch hier gab es nichts zu bekämpfen – und genau das machte ihm Angst.
Auriel trat neben ihn, seine Präsenz wie ein leuchtender Anker in dieser fremden Welt. Er trug ein kleines, goldenes Symbol auf seiner Brust – eine Spirale, die sich endlos drehte. Jonas wusste nicht warum, aber er konnte den Blick nicht davon abwenden. „Du musst nichts verstehen, Jonas. Du musst nur da sein.“
Doch Jonas‘ Körper wehrte sich – als wäre diese Stille zu laut, als wäre dieses Licht zu rein, um es anzunehmen. Er brauchte etwas Festes, etwas, das ihn verankerte – einen Schatten, eine Grenze, eine Bestätigung, dass er noch existierte. Doch hier gab es nur Licht. Und je länger er darin stand, desto mehr fühlte er sich… aufgelöst.
Er atmete tief ein. Dann wieder aus. Die Ruhe dieser Welt war keine Bedrohung. Sie war ein Geschenk.
Aber war er bereit, es anzunehmen?
Wenn er ehrlich zu sich war, wusste er es nicht. Jonas spürte, wie ein innerer Widerstand in ihm aufkeimte. Sein Verstand wollte an alten Überzeugungen festhalten, an all den Stimmen, die ihm jahrelang eingetrichtert hatten, dass er nicht fähig sei zu lieben – dass er nicht gut genug sei. Doch tief in ihm war da auch eine andere Stimme, leise, kaum hörbar, aber beständig. Eine Sehnsucht, die er nie ganz unterdrücken konnte.
Wenn er sich darauf einließ – wenn er den Schritt wagte – was würde dann geschehen?
Wenn er es wirklich zuließ, was würde er dann finden?
Auriel lächelte sanft, als hätte er Jonas’ innere Fragen gehört. Vielleicht hatte er das auch – oder vielleicht war es einfach offensichtlich.
Auriel lächelte sanft. „Dann werde ich dich auf deiner Reise begleiten,“ sagte er, seine Stimme wie ein beruhigender Fluss. „Ich werde dir helfen, die Facetten der Liebe zu verstehen. Du wirst sehen, wie andere die Liebe leben, wo du sie verneint hast. Und du wirst erfahren, wie deine Entscheidungen dein Leben und das Leben anderer geprägt haben.“
„Ist es das, was ich in meinem Leben verpasst hatte? Die Liebe?“, fragt Jonas den Auriel.
„Finde es selbst heraus!“, war alles was vom Engel als Antwort darauf kam.
Eine lange Stille legte sich zwischen sie. Jonas kämpfte mit sich selbst, mit den Emotionen, die in ihm tobten. Schließlich – langsam, zögernd – nickte er.
„Okay,“ murmelte er, seine Stimme leise und brüchig. „Ich werde es versuchen.“
Mit einer Handbewegung öffnete sich vor ihnen eine schimmernde Tür aus purem Licht. Jonas blinzelte und sah die Umrisse eines riesigen, kristallenen Palastes, umgeben von tanzenden Lichtkugeln und schwebenden Farben. Es war eine Welt jenseits seiner Vorstellungskraft, eine Welt voller Möglichkeiten und voller Antworten auf Fragen, die er sich nie getraut hatte zu stellen.
„Tritt ein,“ sagte Auriel, und seine Stimme war wie ein sanftes Flüstern des Windes. „Deine Reise beginnt hier.“
Kaum hat Jonas den ersten Schritt durch das schimmernde Tor gemacht, breitet sich die neue Welt vor ihm aus. Das Licht blendet ihn für einen Moment, und als er wieder klar sieht, steht er auf einem schwebenden Pfad aus kristallinem Licht. Der Pfad scheint keinen Anfang und kein Ende zu haben, als würde er ins Unendliche führen. Links und rechts von ihm schimmern schwebende Kugeln, die sanft in der Luft pulsieren, jede gefüllt mit Bildern und Erinnerungen.
„Das hier… das ist alles mein Leben?“ fragt er heiser, unfähig, den Blick von den Kugeln zu lösen. Sie drehen sich langsam, wie Planeten um eine Sonne, und zeigen flüchtige Szenen, die ihm schmerzhaft bekannt vorkommen.
„Ja,“ antwortet Auriel sanft und tritt neben ihn. „Jede dieser Kugeln ist eine Erinnerung aus deinem Leben. Sie zeigen die Momente, die dich geprägt haben – die guten und die schlechten. Und jetzt wirst du diese Momente erneut betrachten, um zu verstehen, was du in deinem Leben übersehen hast.“
Jonas’ Blick wandert von einer Kugel zur anderen. Für einen kurzen Augenblick sieht er Szenen aus seiner Kindheit, flüchtige Bilder von Sarah, Jakob und seinen Eltern. Sein Herz verkrampft sich schmerzhaft. Er fragt sich, ob er es ertragen kann, all das noch einmal durchleben zu müssen – die Enttäuschungen, die Wut, die schmerzhaften Verluste.
„Warum muss ich das tun?“ fragt er leise und wendet sich an Auriel. „Ich weiß doch schon, was ich falsch gemacht habe. Ich habe alles vermasselt. Warum muss ich das nochmal sehen?“
Auriel bleibt ruhig, seine Stimme weich und mitfühlend. „Weil es nicht reicht, es nur zu wissen, Jonas. Du musst es verstehen – und die Emotionen zulassen, die du all die Jahre verdrängt hast. Die Heilung beginnt mit dem Erkennen.“
Auriel streckt die Hand aus, und eine der schwebenden Kugeln löst sich aus dem Kreis. Sie driftet zu ihnen hinüber und bleibt direkt vor Jonas stehen. Die Oberfläche der Kugel flimmert und wird transparent, zeigt eine Szene, die Jonas nur allzu gut kennt.
Jonas sieht sich selbst in einer kleinen Küche sitzen. Das Licht ist grell und kalt, fällt direkt auf den alten, abgenutzten Küchentisch, an dem er sitzt. Vor ihm liegt ein zerknittertes Stück Papier – eine Hochzeitseinladung, die sein bester Freund Jakob ihm geschickt hatte. Jonas’ jüngeres Gesicht ist von einem verächtlichen Grinsen verzogen, seine Augen voller Misstrauen und Zorn.
„Jakob… heiratet,“ murmelt er sarkastisch und schnauft abfällig. „Wie lächerlich.“
Er nimmt die Einladung, zerknüllt sie und wirft sie achtlos in den Papierkorb neben dem Tisch. Seine Hände zittern, und für einen Moment wirkt er, als wolle er etwas sagen, als würde ein Gefühl in ihm aufsteigen, das er nicht benennen kann. Doch dann wendet er sich ab, steht hastig auf und reißt die Küchentür auf. Er greift nach einer Bierflasche auf der Anrichte, öffnet sie mit einem Ruck und kippt einen großen Schluck hinunter.
„Der wird’s auch noch bereuen,“ murmelt er zu sich selbst. „Jeder wird’s irgendwann bereuen.“
Die Szene erstarrt und verblasst langsam. Jonas fühlt, wie eine schwere Last sich in seiner Brust festsetzt, als würde eine kalte Faust sein Herz umklammern. Er hatte diese Einladung tatsächlich bekommen, hatte sie ignoriert und Jakob damals nicht einmal angerufen. Ein Teil von ihm wollte damals hingehen, wollte sehen, wie sein Freund glücklich war. Aber er hatte es nicht ertragen können. Er wollte nicht sehen, dass jemand anders etwas hatte, das er nie finden konnte.
„Warum habe ich das getan?“ murmelt er und schüttelt den Kopf. „Er war mein Freund… und ich… habe ihn einfach abgelehnt.“ Erinnerungen an Jakob, an die Zeiten, in denen sie zusammen gelacht, getrunken und über das Leben philosophiert hatten, drängen sich ihm auf. Diese Nähe, diese Freundschaft – und er hatte sie zerstört. Mit jedem Jahr, das vergangen war, hatte sich die Distanz vergrößert, und am Ende war nur noch eine kalte Leere geblieben.
„Du hast abgelehnt, weil du den Schmerz in dir selbst nicht ertragen konntest,“ sagt Auriel leise. „Du hast die Liebe in Jakobs Leben als Bedrohung empfunden, weil du selbst so viele Male enttäuscht wurdest. Aber anstatt diese Gefühle zuzulassen und sie zu verarbeiten, hast du sie in Zorn verwandelt.“
Jonas senkt den Kopf und starrt auf seine schattenhaften Hände, die im Licht des Palasts beinahe durchsichtig wirken. „Ich wollte ihn doch nicht verlieren,“ flüstert er. „Aber ich konnte es nicht ertragen, ihn glücklich zu sehen, weil… weil ich wusste, dass ich es nie schaffen würde, dieses Gefühl in mir zu finden.“
Auriel nickt nur und lässt die Szene in der Lichtkugel verschwimmen, bis sie wieder in einem sanften Goldton schimmert. Dann dreht er sich um und streckt die Hand nach einer anderen Kugel aus, die sich wie eine Sternschnuppe durch den Raum bewegt und ebenfalls vor ihnen schwebt. Diese Kugel flimmert leicht, als ob sie mit Energie geladen wäre.
„Hier ist eine weitere Erinnerung, die du sehen musst,“ murmelt Auriel, und erneut formen sich Bilder auf der schimmernden Oberfläche.
Die Umgebung veränderte sich, und Jonas erkannte sofort das Wohnzimmer seiner alten Wohnung. Es war ein trostloser, kalter Ort. Die Wände kahl, die Möbel alt und abgenutzt, das Licht der flackernden Deckenlampe warf harte Schatten in die Ecken. Vor ihm stand Sarah, ihre Augen waren rot und geschwollen, ihr Gesicht eine Maske aus Schmerz und Wut. Jonas spürte, wie sich ein Kloß in seiner Kehle bildete. Er kannte diesen Moment nur zu gut.
„Warum verstehst du das nicht, Jonas?“ flehte Sarah mit erstickter Stimme, während sie die Arme schützend um sich selbst schlang. „Ich brauche dich! Ich brauche dich als Partner, als jemanden, der mich unterstützt! Ich kann das nicht allein… ich…“
Jonas fühlte die Wut seines damaligen Ichs wie ein lebendiges Wesen in sich aufsteigen. Sein Herz raste, die Worte, die er damals ausgesprochen hatte, schienen sich in seinem Inneren festzukrallen, als ob sie ihn erneut überwältigen wollten. Er wusste, was jetzt kommen würde – das war der Moment, an dem alles zerbrach.
„Und ich kann nicht mehr! Hörst du?“ schrie er zurück, seine Stimme war rau und zitternd, seine Augen glühten vor Zorn und Verzweiflung. „Deine ewigen Erwartungen, deine ständigen Forderungen! Ich kann das alles nicht mehr ertragen! Ich bin einfach nicht gut genug, verstehst du das nicht?“
Sarah wich zurück, als ob seine Worte sie körperlich getroffen hätten. „Niemand hat jemals gesagt, dass du nicht gut genug bist, Jonas… Niemand außer dir.“
Die Stille, die auf diese Worte folgte, war so tief und so kalt, dass sie die gesamte Szenerie zu ersticken schien. Jonas sah, wie sich sein jüngeres Ich abwandte, mit zitternden Händen nach einer Zigarettenschachtel griff und sie aus einem Reflex heraus zerdrückte. Staub umhüllte ihn, als ob er die unerträgliche Spannung ersticken wollte.
Der gegenwärtige Jonas trat einen Schritt zurück. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag in die Magengrube. All die Male, die er Sarah hätte zuhören, ihr hätte sagen können, dass er sie liebt, dass er nur Angst hatte… Er hatte sie alle verstreichen lassen. Stattdessen hatte er geschrien, geschimpft und sie mit seiner Wut vertrieben.
„Warum habe ich sie nur so behandelt und sie von mir weggestoßen?“
Auriel stand neben ihm und ließ die Szene in der Lichtkugel verharren. „Weil du Angst hattest, Jonas. Angst, dass du sie enttäuschen würdest, dass du nicht genug für sie bist. Und anstatt ihre Liebe zu akzeptieren, hast du sie mit Zorn erstickt.“
Jonas schloss die Augen. Die Erkenntnis war wie ein harter Schlag in den Magen. Er hatte Sarah nie wirklich gesehen, nie verstanden, wie sehr sie ihn geliebt hatte und dass sie nur versucht hatte, ihm zu helfen. Er hatte sich selbst in dieser Beziehung verloren, weil er nie geglaubt hatte, es wert zu sein, geliebt zu werden.
„Warum… warum habe ich nicht einfach zugehört?“ flüsterte er und fühlte, wie der Kloß in seiner Kehle wuchs. „Warum konnte ich nicht sehen, dass sie mich nur geliebt hat und versucht hat, mir zu helfen?“
Auriel legte ihm sanft die Hand auf die Schulter. „Weil du diese Liebe in dir selbst nicht gesehen hast. Weil du dich selbst nie als liebenswert empfunden hast. Du hast geglaubt, du verdienst nur Schmerz und Ablehnung – und genau das hast du dann auch nach außen projiziert.“
Die Szene in der Lichtkugel löste sich langsam auf, und die schmerzverzerrten Gesichter von Sarah und seinem jüngeren Selbst verschwammen wie Nebel im Wind. Jonas spürte, wie eine Welle der Trauer und der Reue durch ihn hindurchrollte, stärker als je zuvor.
„Ich war einfach nur zu schwach, um das Gute anzunehmen,“ murmelte er tonlos. „Und jetzt… jetzt ist es zu spät, oder?“
Auriel schwieg einen Moment, dann sprach er leise. „Es ist nie zu spät, Jonas. Du trägst die Kraft der Vergebung in dir – nicht nur für andere, sondern auch für dich selbst. Diese Szenen sind keine Strafe, sondern Einladungen. Einladungen, Frieden zu finden.“
Jonas hob den Kopf und sah, wie eine weitere Kugel näher schwebte, diesmal in einem düsteren, tiefen Schwarz getaucht. Er spürte, wie die Luft um ihn herum kälter wurde, und seine Nackenhaare richteten sich auf. Plötzlich brach ein schneidendes Lachen aus der Dunkelheit hervor, gefolgt von einer Stimme, die ihm nur zu vertraut war.
Die Dunkelheit um Jonas herum wirkte schwer und drückend. Seine Atmung beschleunigte sich, als der Schatten vor ihm immer deutlicher wurde. Die Gestalt war schemenhaft, ihre Konturen flossen ineinander wie dickflüssiger Rauch, und doch konnte Jonas die schmerzhaft vertrauten Züge erkennen – sein eigenes Gesicht, verzerrt zu einer Maske des Hohns und der Verachtung.
„Ach, was für eine rührende Szene,“ flüsterte die Gestalt mit einem kalten, sarkastischen Unterton. „Du glaubst wirklich, dass ein paar aufrichtige Worte und Gesten ausreichen, um all das ungeschehen zu machen, was du angerichtet hast?“ Das Lächeln auf den Lippen des Schattens vertiefte sich, während er langsam auf Jonas zuschritt. „Du bist lächerlich. Du wirst immer versagen. Du bist nichts als ein Schatten deiner selbst.“
Jonas’ Herz raste. Die vertraute Angst, die er immer vor dieser dunklen Seite gespürt hatte, kroch ihm wie eisige Ketten den Rücken hinauf. Doch diesmal war da noch etwas anderes – eine leise, aber bestimmte Entschlossenheit, die seine Angst herausforderte.
„Nein,“ flüsterte er, die Stimme kaum mehr als ein raues Krächzen. „Ich habe mich verändert… Ich werde nicht mehr in diese Dunkelheit zurückkehren.“
Der Schatten lachte trocken. „Verändert? Oh, bitte! Du bist derselbe Schwächling wie immer, der sich einredet, stark zu sein. Erinnerst du dich nicht an all die Momente, in denen du versagt hast? Wo du deine Wut an anderen ausgelassen hast?“ Der Schatten hob eine Hand, und plötzlich brach eine Flut von Bildern über Jonas herein. Szenen, in denen er Freundschaften zerstört, Menschen beleidigt und Fremde kalt abgewiesen hatte.
Die Worte des Schattens prallten wie Schläge auf Jonas ein. „Du wirst niemals frei sein. Nicht von mir. Ich bin der Teil von dir, der nie verschwinden wird. Ich bin deine Wut, deine Zweifel, deine Dunkelheit. Du kannst mich nicht einfach ablegen. Du kannst nicht fliehen.“
„Hör nicht auf ihn, Jonas,“ erklang Auriels sanfte Stimme. Der Engel trat an seine Seite, seine Präsenz war wie ein schützendes Licht, das die Dunkelheit um sie herum etwas zurückdrängte. „Das ist dein Schatten, Jonas. Er ist ein Teil von dir, ja – aber er kann nur so mächtig sein, wie du es zulässt.“
Jonas atmete schwer, spürte, wie die Angst und der Zorn in ihm aufwallten, doch er hielt dem Blick des Schattens stand. „Ich habe keine Angst vor dir,“ murmelte er schließlich, seine Stimme fester als zuvor, obwohl sein Herz noch immer wild schlug.
„Der Schatten lachte – ein raues, hasserfülltes Echo, das in Jonas‘ Knochen vibrierte. ‚Du denkst wirklich, du kannst mich besiegen?‘ Er machte einen Schritt auf Jonas zu, und mit jeder Bewegung flackerte die Dunkelheit. ‚Du wirst scheitern, genau wie damals. Wie immer.‘“ Mit einem langsamen Schritt rückte die dunkle Gestalt näher, und Jonas fühlte einen eisigen, durchdringenden Schmerz – doch es war kein körperlicher Schmerz. Es war die Erinnerung an die zerbrochene Freundschaft mit Jakob, die qualvollen Tränen von Sarah, die Wutausbrüche und die endlose Leere, die in ihm hochkochte. All die Gefühle drängten sich in seine Gedanken, als ob der Schatten sie ihm direkt vor Augen führte.
„Nein!“ schrie Jonas innerlich, während die Welle von Emotionen ihn zu übermannen drohte. Doch im letzten Moment legte Auriel ihm die Hand auf die Schulter. Ein gleißendes Licht brach aus dieser Berührung hervor, breitete sich aus und verdrängte den Schatten, der mit einem wütenden Zischen zurückwich und sich in die Dunkelheit verzog.
„Es wird nicht das letzte Mal sein, dass du ihm begegnest,“ sagte Auriel ernst, seine Augen auf die sich zurückziehende Dunkelheit gerichtet. „Aber jedes Mal, wenn du ihm ins Gesicht siehst, hast du die Wahl: ihn zu bekämpfen oder ihn zu heilen.“
Jonas' Blick fiel erneut auf Auriels Brust.
Die goldene Spirale drehte sich langsam, als wäre sie lebendig, als würde sie atmen. Er hatte sie schon einmal gesehen, aber jetzt, nach allem, was er durchlebt hatte, spürte er, dass sie mehr war als nur ein Ornament.
„Die Spirale... sie hört nie auf.“ Jonas‘ Stimme klang leise, voller Ehrfurcht.
Auriel nickte sanft. „Alles ist ein Fluss, Jonas. Entwicklung endet nie. Liebe wächst weiter, wenn du es zulässt. Leben ist keine Linie, kein Anfang und kein Ende – es ist eine Spirale. Du kehrst immer wieder zu dir selbst zurück, aber jedes Mal ein Stück weiser.“
Jonas atmete tief ein. Er verstand. Die Spirale war sein Weg, sein inneres Wachstum. Immer wieder hatte er geglaubt, an einem Punkt angekommen zu sein, nur um zu erkennen, dass er immer noch weitergehen musste. Aber diesmal… diesmal war er bereit.
Der vertraute Anblick des kleinen Supermarktes in seiner alten Nachbarschaft erschien vor ihm. Regale voller Waren reihten sich eng aneinander, und das gedämpfte Summen der Neonlichter erfüllte die Luft mit einem unbehaglichen Brummen. Ein gewöhnlicher Wochentag, an dem Jonas in der Schlange an der Kasse stand, die Arme verschränkt und mit grimmigem Blick vor sich hin starrend.
„Ich erinnere mich,“ murmelte er tonlos, während er die Szene beobachtete, die sich in der Lichtkugel vor seinen Augen abspielte. „Ich war so wütend. Aber… ich weiß nicht einmal mehr, warum. Es hatte nichts mit der alten Dame vor mir zu tun.“
Die Erinnerung verschärfte sich und zog ihn in ihren Bann. Er sah sich selbst vor der Kasse stehen – jünger, mit harter Miene, die Schultern angespannt. Vor ihm stand eine gebrechliche, ältere Dame, die nervös in ihrer Handtasche nach Kleingeld suchte. Sie zitterte leicht, und ihre Finger schienen nicht in der Lage zu sein, das Geld ruhig zu halten.
„Können Sie sich nicht ein bisschen beeilen?“ hörte er sein jüngeres Ich schließlich knurren. „Manche von uns haben nicht den ganzen Tag Zeit!“
Die ältere Dame zuckte zusammen und ließ vor Schreck ein paar Münzen fallen. Ihr Gesicht war von Panik erfüllt, als sie sich hastig bückte, um das Geld aufzusammeln. Die Kassiererin, die diese Szene beobachtete, warf Jonas einen vorwurfsvollen Blick zu, sagte aber nichts. Die anderen Kunden hinter ihm schauten weg, als wollten sie nichts mit der Situation zu tun haben.
„Es tut mir leid,“ murmelte die alte Frau mit schwacher Stimme und versuchte verzweifelt, das Kleingeld aufzusammeln. „Ich… ich bin gleich fertig…“
„Ja, ja, schon gut,“ schnaubte Jonas und rollte die Augen. Er trat einen Schritt zur Seite, um an ihr vorbeizugehen, und seine Schulter streifte dabei ihren Arm, sodass sie das Gleichgewicht verlor und einen Moment lang schwankte. Doch er wendete sich nicht einmal um. Ohne ein weiteres Wort warf er die paar Artikel, die er in der Hand hielt, auf die Theke, bezahlte hastig und rauschte aus dem Laden, als wäre er von einer unsichtbaren Kraft angetrieben.
Die Szene fror ein. Die ältere Dame blieb in gebückter Haltung zurück, ihr Gesicht zeigte einen Ausdruck von tiefer Traurigkeit und Scham. Jonas sah zu, wie sie mit zitternden Fingern die Münzen aufsammelte, als ob jede Bewegung sie all ihre Kraft kosten würde. Ihre Augen waren feucht, und sie schluckte hart, um die aufkommenden Tränen zurückzuhalten. Niemand half ihr, niemand griff ein. Die anderen Kunden in der Schlange taten so, als würden sie es nicht bemerken.
„Ich habe sie gedemütigt,“ murmelte Jonas, das Entsetzen in seiner Stimme war nicht zu überhören. „Sie hatte mir nichts getan, und trotzdem habe ich sie verletzt.“
„Es war nicht der Moment an sich, der diese Reaktion in dir ausgelöst hat,“ sagte Auriel leise, während er neben Jonas stand und die Szene betrachtete. „Es war das, was in dir brodelte, all die ungelösten Konflikte und der tief verwurzelte Groll. Du hast nicht nur sie verletzt, sondern auch dich selbst weiter von der Liebe entfernt.“
Jonas spürte, wie sich sein Magen zusammenzog. Diese Begegnung hatte er längst vergessen, sie war ihm unwichtig erschienen, nicht mehr als ein flüchtiger Moment, der keinen Wert hatte. Doch nun, da er die Szene vor sich sah, erkannte er die Wirkung, die er auf andere Menschen gehabt hatte – und auf sich selbst.
„Ich… ich habe sie einfach ignoriert,“ murmelte er mit einem Hauch von Verzweiflung in der Stimme. „Ich hätte helfen können. Ich hätte einfach nur ruhig bleiben müssen. Aber ich… ich war so voller…“
„Frustration, Enttäuschung und Selbsthass,“ ergänzte Auriel sanft. „All das, was du nicht zugelassen hast, hat sich in deinem Verhalten anderen gegenüber manifestiert. Diese Frau, die dir nichts Böses wollte, hat den Schmerz in dir gesehen. Sie hat ihn in deine Worte und deine Kälte gespürt.“
Auriel erhob die Hand, und die eingefrorene Szene begann sich zu verändern. Das Bild der alten Dame und seines jüngeren Ichs verblasste, wurde durch eine andere Vision ersetzt. Jonas sah sich selbst erneut im Supermarkt, doch dieses Mal war etwas anders. Seine Haltung war entspannt, seine Augen strahlten Wärme aus.
Er beobachtete die ältere Dame, wie sie nervös in ihrer Tasche nach Kleingeld suchte. Statt zu murren, trat er einen Schritt vor und sprach mit sanfter Stimme: „Lassen Sie mich Ihnen helfen.“
Die alte Dame blickte überrascht auf, ein Hauch von Erleichterung in ihren Augen. „Oh, das wäre sehr freundlich von Ihnen,“ sagte sie zögernd.
Jonas lächelte und half ihr, die Münzen zu zählen. „Keine Eile,“ fügte er hinzu, während er ihr das letzte Stück Kleingeld reichte. „Manchmal brauchen wir alle ein bisschen mehr Zeit.“
Die Kassiererin lächelte dankbar, und die Kunden hinter ihm schienen sich zu entspannen. Die ältere Dame bedankte sich mehrfach, ihre Hände zitterten weniger, als sie die Waren in ihre Tasche packte. Bevor sie ging, sah sie Jonas an und sagte mit Tränen in den Augen: „Sie haben meinen Tag gerettet.“
Die Szene verblasste erneut, und Jonas stand wieder in der endlosen Dunkelheit. Er spürte ein warmes Leuchten in seiner Brust, ein Gefühl, das er lange nicht mehr gekannt hatte.
„Das hättest du tun können,“ sagte Auriel leise, „und kannst es immer noch. Jeder Moment ist eine neue Gelegenheit, Liebe zu wählen. Es ist nie zu spät, den Weg zu ändern.“
Jonas nickte, die Erkenntnis schmerzte, aber sie war auch befreiend. „Ich verstehe jetzt,“ flüsterte er. „Jeder kleine Akt der Liebe zählt.“
Die Erinnerung verblasste langsam, und die Kugel glitt sanft zurück in den Raum, wo sie sich wieder unter die anderen mischte. Jonas’ Schultern sanken, und er fühlte sich kleiner, als ob die Wahrheit über sein eigenes Verhalten ihn niederdrücken würde. Er hätte so vieles anders machen können – aber er hatte es nicht getan. Er hatte nie den Moment genutzt, um innezuhalten und zu verstehen.
„Ich habe so viele Menschen verletzt,“ flüsterte er, die Worte fast verschluckt von der weiten Stille des Palasts. „Nicht nur die, die mir nahe standen… sondern auch Fremde. Menschen, die mir nie etwas getan haben. Warum war ich so?“
„Weil du das Leid in dir selbst nicht sehen wolltest,“ erklärte Auriel ruhig. „Du hast gelernt, es zu ignorieren, indem du es in die Welt hinausprojiziert hast. Der Schmerz, den du anderen zugefügt hast, war ein Spiegel deines eigenen inneren Schmerzes.“
Jonas fühlte einen dichten, schweren Kloß in seiner Brust, als ob die Last seiner Taten ihn erstickte. Die Klarheit, mit der er nun sah, wie sein Verhalten in unzähligen kleinen Momenten andere Menschen getroffen hatte, brach wie ein Damm über ihm zusammen.
„Was hat mich zu diesem Menschen gemacht?“ fragte er schließlich, die Frage fast flehend. „Ich war doch nicht immer so. Irgendwann muss ich…“
„Es gibt eine Antwort darauf,“ sagte Auriel ruhig. „Und um sie zu finden, musst du noch tiefer in deine Vergangenheit eintauchen. Du musst sehen, wo alles begann. Die Wurzeln deines Schmerzes liegen tiefer, als du glaubst.“
Eine neue Lichtkugel erschien, diesmal in einem sanften, fast tröstlichen Blau. Sie schwebte dicht vor Jonas, und obwohl er zögerte, streckte er langsam die Hand aus und berührte sie. Augenblicklich wurde die Welt um ihn herum erneut von einem flirrenden Licht erfasst, und er wurde in eine neue Vision gezogen.
Die Dunkelheit um ihn herum löste sich auf, und die vertrauten Bilder seiner Kindheit tauchten vor seinen Augen auf. Er war zurück in seinem alten Zuhause, ein kleiner Junge, der allein in einem kühlen, dunklen Zimmer saß. Die Tür war verschlossen, und das gedämpfte Geräusch von erhobenen Stimmen drang von draußen herein. Die Luft war schwer und angespannt.
Auriel erschien neben ihm und legte eine Hand auf seine Schulter. „Hier, Jonas, liegen die Wurzeln deines Schmerzes. Schau genau hin, damit du verstehen kannst, was dich zu dem Menschen gemacht hat, der du geworden bist.“
Jonas konnte sich nicht abwenden. Sein jüngeres Ich saß zitternd in der Ecke des Zimmers, seine Knie an die Brust gezogen, die Augen voller Angst und Einsamkeit. Ein kleiner Junge, der nie die Zuneigung und Geborgenheit erfahren hatte, die er so sehr brauchte. Eine zerbrechliche Seele, die gelernt hatte, Schmerz und Wut in sich hineinzufressen, weil niemand da war, der ihm zeigte, wie man diese Gefühle auf gesunde Weise ausdrückt.
„Ich war… so allein,“ flüsterte Jonas und spürte, wie seine Brust sich zuschnürte. „Ich wusste nicht, was ich tun sollte… niemand hat mir gesagt, dass es in Ordnung ist, zu fühlen…“
„Du hast gelernt, deine eigenen Gefühle zu unterdrücken, weil sie keinen Platz in deinem Leben fanden,“ sagte Auriel sanft. „Doch immer, wenn sie an die Oberfläche drängten, hast du sie in Wut umgewandelt und in eine Mauer aus Kälte, um dich vor weiterem Schmerz zu schützen.“
Jonas schluckte schwer. Zum ersten Mal sah er die Fäden, die all die Jahre sein Leben gewoben hatten – und sie führten alle zurück zu diesem einsamen Kind in der Dunkelheit. Hatte er jemals eine andere Wahl gehabt? Oder konnte er erst jetzt wirklich wählen?
„Ein Flüstern durchbrach die Stille des Raumes – nicht Auriels, nicht seine. Eine dunkle, raue Stimme, die aus den Schatten kroch: ‚Du weißt nicht einmal die Hälfte, Jonas.‘“